Onii-sama e (1991)
Ohne zu wissen was sie erwartet betritt Nanako, eine aufgeweckte Erstklässlerin, zum ersten Mal den Schulhof der Seiran Oberschule für Mädchen. Am ersten Tag wird sie gleich in der Aula von der Schülerpräsidentin Miya-sama begrüßt, die die Erstklässler auf das Auswahlverfahren für den Schülerrat aufmerksam macht. Dieser Schülerrat, genannt Sorority, verspricht den Mitgliedern ein wunderbares Schulleben mit glamourösen Partys und Treffen. Für viele Mädchen bleibt diese Mitgliedschaft jedoch nur ein Traum, denn das Auswahlverfahren ist sehr streng und gnadenlos. Auch Nanako ist fasziniert von dieser unerreichbar scheinenden Welt, doch auf einmal wird sie als Kandidatin für die Sorority ausgewählt. Warum gerade sie? Ist Nanako etwa nur ein Bauer auf Miya-samas Schachbrett?
Tatsächlich werden in Onii-sama e... weder Gewalt, noch Sexualität direkt dargestellt, für ein junges Publikum bleibt der Anime jedoch trotzdem ungeeignet. Dennoch nahmen einige Fernsehanstalten das Risiko auf sich ihn in ihr Programm aufzunehmen. Das italienische Fernsehen strahlte ihn aus, allerdings waren sie gezwungen dies in einer verkürzten Fassung zu tun. In Frankreich schafft er es grade einmal bis zur siebten Episode (von 39), als er aufgrund seiner "starken Erwachsenen Inhalte", aus dem Programm gebannt wurde und eine kontroverse Diskussion um ihn entbrannte.
Onii-sama e... handelt von Krankheit, Tod, Drogenmissbrauch, Selbstmord, Scheidung, Inzest, Homosexualität und psychischer Gewalt. Es ist ein Melodram das sich an Dramatik und Tragik kaum überbieten lässt. Der Anime ist stark auf Emotionen fixiert und überschreitet damit oft die Grenze zum Kitsch, er ist gewollt übertrieben stilisiert Inszeniert. Es wird keine realistische Handlung erzählt, sondern mit überhöhten Symbolisierungen Schicksalsfügungen ausgedrückt, durch die Probleme (familiäre Situation, emotionale Notlagen, usw.) sichtbar gemacht werden und durch formale Parameter (Musik, Farbkomposition, Wetter, Wechsel dynamischen zu statischen Szenen, usw.) dargestellt werden. So ist das Thema des Anime primär die Leidensgeschichten seiner Protagonisten.
Er vermittelt einem das Gefühl das Anime-Äquivalent eines Grusel-Romans zu sehen, überhaupt versucht dieser Anime mit seiner Bildsprache und Farbdramaturgie eine bedrohliche Stimmung zu erzeugen. Häufige Großaufnahmen von Gesichtern, häufige Standbilder, usw. durch die Emotionen direkt transportiert werden. Die Sehgewohnheiten des durch flüssige Computer-Animation verwöhnten Zuschauers werden auf eine harte Probe gestellt.
Alles an diesem Anime ist darauf ausgelegt die Charaktere so elegant wie möglich in Szene zu setzen ohne sie dabei jedoch ins lächerliche zu ziehen. Die Charaktere stellen eine Gratwandung dar. Ihre Ansprüche an sich selbst und an ihr soziales Umfeld sind so hoch, dass sie zwangsläufig daran scheitern müssen. Ihre übersteigerten Ansprüche spiegeln sich in ihren extremen Verhaltensweisen wider, wodurch sie eine tragische Tendenz bekommen.
Wie z.B. Mariko Shinobu, die Nanako ihre Freundschaft förmlich aufzwingt. Sie ist eine intrigante Femme Fatal, die auch nicht davor zurückschreckt eine Kindheitsfreundschaft zu zerstören, jedoch ihr im Notfall stets loyal zur Seite steht (und das nicht nur mit Worten).
Die Figuren haben tiefgreifende Probleme. Sie sind hysterisch, obsessiv, manipulativ, depressiv bis zu Suizidgedanken und mobben auf das Übelste um ihre Ziele durchzusetzen. Das kennt man auch aus anderen Shoujo-Anime, aber nicht in dieser aggressiven Form. Die schönen zivilisatorischen Fassaden zerbröckeln rasant, wenn sich ein Charakter z.B. um sein sicher geglaubtes Erbrecht auf einen Platz in der Sorority betrogen sieht.
Wie bei fast allen Shoujo-Anime gibt es auch hier einen Gender-Twist, eine tragische Bishonen-Figur, die aber in diesem Fall eigentlich eine Frau ist. Rei Asaka (Hana-no-Saint-Juste-sama genannt), sie hat ein großes musikalisches Talent, jedoch ihren Mitmenschen gegenüber tritt sie mit großer Gleichgültigkeit auf, zu denen die sie liebt ist sie aber äußerst integer. Sie steht in einer zwanghaften Beziehung zu Miya-sama von der sie förmlich besessen ist, was sie mit Drogen zu betäuben versucht.
Onii-sama e... ist kein Meilenstein der Anime-Geschichte. Was er auch nicht sein kann. Sein klassischer Aufbau orientiert sich mehr am Realfilm, als am Animationsfilm. Seinen Einfluss auf das Yuri-Genre aber kann man kaum übersehen, Serien wie z.B. Maria-sama ga Miteru beziehen sich stark auf dieses Werk.
Es ist einer der ersten Anime-Serien die sich je um ein gewöhnliches naives Mädchen, das frisch auf einer Mädchenschule eingeschult wurde drehten (soweit ich weiß, ist er sogar der Erste mit diesem Setting - kennt jemand ein älteren?). Aber anders als bei seinen Nachfolgern ist hier das Drama intensiver. Die Auswirkungen des Manga waren vermutlich hingegen noch bei weitem größer als die des Anime. Vieles von dem was wir heute als Yuri-Anime betrachten fand in ihm seine frühen Wurzeln. Er bleibt ein sich stetig haltender zeitloser Klassiker des Genre.