Ein Herz aus Gold
Inhalt
- Erster Akt -
>>> Kapitel II – Ein Traum von Freundschaft
>>> Kapitel III – Weiß wie Alabaster
>>> Kapitel IV – Silbernes Gift (Teil 1) --- Silbernes Gift (Teil 2) --- Silbernes Gift (Teil 3)
- Zweiter Akt -
>>> Kapitel V – Beißer und Kneifer
>>> Kapitel VI – Träume sind Schäume
>>> Kapitel VII – Freund und Helfer
- Dritter Akt -
>>> Kapitel VIII – Showdown (Teil 1) --- Showdown (Teil 2)
>>> Kapitel X – Ein Herz aus Gold (Teil 1) --- Ein Herz aus Gold (Teil 2)
Kapitel IV – Silbernes Gift (Teil 1)
Dickliche weiße Kugeln luden zu einem Tanz in wildem Rhythmus. Durch die Schwärze der Nacht und entlang des Feuerscheins hüpften und sprangen sie mit unergründlicher Choreographie. Erst schüchtern, dann forscher und nun ohne Halt.
Während das Kleinstein als Erstes aus ihrem Unterschlupf rollte und sogleich daran arbeitete, zu einem Schneeball zu werden, folgte ihm das Sandan nur zögerlich und versuchte mit seinen Krallen die Flocken zu fangen; es wedelte verärgert mit seinen Armen, als der Schnee in diesen schmolz. Er saß neben Lino in ihrem selbstgebauten Unterschlupf am Rande des Steineichenwalds, hatte einen Arm um es gelegt und beobachtete vergnügt, wie es mit aufgeregtem Gesichtsausdruck das Stieben des Schnees verfolgte. Seine Pokémon im Schnee rundeten diese Woche perfekt ab. Freudseligkeit schwoll in seiner Brust und er wünschte, dass dieser Moment gefröre und auf ewig Bestand hätte; sie alle eingeschlossen in einer unzerstörbaren Schneekugel, die nicht mal von den Schlingen der Zeit umhüllt werden konnte.
Nachdem Geo und Andi genesen waren und sich ihnen angeschlossen hatten, konnten sie gestern Abend endlich den Orden von Azalea City erringen. Kai war eine harte Nuss gewesen, er hatte seinen ganzen Gegengift-Vorrat aufgebraucht. Sie waren schließlich weitergezogen und haben nun ein Lager für die Nacht aufgebaut.
Lino lachte vergnügt, als sich eine der Schneeflocken in ihren Unterschlupf verirrte, auf seiner Nase verging und sich in Wasser verwandelte, welches es sogleich gierig aufsog. Linus lachte mit ihm und so überhörten sie beide das Geräusch von knirschenden Schritten auf dem Neuschnee. Er bemerkte den jungen Mann in schwarzem Mantel und mit Haar so rot wie Höllenfeuer erst, als dieser schon neben ihnen stand. Linus zog Lino instinktiv an sich.
„Ich will dir keine Angst machen“, sagte dieser mit so ausdrucksloser Stimme, als wäre es das Alltäglichste auf der Welt, mitten in der Nacht in ein fremdes Lager zu platzen, „mir ist kalt.“
Hinter dem Mann stand ein Tauboss, welches das Gespräch neugierig zu verfolgen schien.
„Wer bist du?“, fragte Linus, während Geo und Andi zurückkamen und sich rasch hinter Linus‘ und Linos Rücken versteckten.
„Silber“, sagte sein Gegenüber knapp. Linus nickte und nannte seinen Namen.
„Ich will dir keine Angst machen“, sagte Silber erneut, „kann ich über Nacht bleiben? Es wird ein richtiger Sturm.“
Er hatte ein ungutes Gefühl, doch Mitleid mit dem Tauboss. Nachdem sie zuletzt Geo und Andi gesundgepflegt hatten, war in ihm tatsächlich das Bedürfnis aufgeflammt, eine helfende Hand für Pokémon zu sein. Ja, er konnte sich mittlerweile sogar vorstellen, irgendwann in einem Pokémon-Center zu arbeiten...
„Natürlich“, sagte er deshalb.
Tauboss und Silber zwängten sich ohne ein weiteres Wort in ihr Lager und schienen sich augenblicklich schlafen zu legen. Ein mehr als merkwürdiges Duo, dachte er sich.
Linus war davon überzeugt, diese Nacht mit der unerwarteten Wendung auf gar keinen Fall ein Auge zuzutun; wenig später war er eingeschlafen und träumte, dass er in seinem Bett in Teak City lag. Seine Mutter schien nach ihm zu rufen, doch ihre Stimme war so leise, dass er sie kaum hören konnte. Ebenso konnte er nicht aufstehen, was ihn wahnsinnig machte; wollte er doch so sehr der Stimme seiner Mutter folgen...
Ein bohrender Schmerz durchfuhr seinen Rücken plötzlich und er schrie los. Er wusste nicht, ob er wirklich geschrien hatte oder dies nur im Traume passiert war; er richtete sich auf und rief instinktiv nach Lino.
„Es ist krank“, sagte die leise Stimme.
Keuchend stieß Linus kleine Dampfwölkchen in die Luft und kroch auf Silber zu, der neben Lino am fast niedergebrannten Feuer stand und auf dieses hinabblickte. Sein Lino atmete schwer ein und aus. Für gewöhnlich war es fast so, als greife man in einen See mit Eiswasser, wenn man Morlord berührte; doch jetzt war seine Haut unnachgiebig und heiß wie eine Flamme.
„Es ist von einem Webarak gebissen worden“ sagte Silber mit der gleichen Belanglosigkeit wie vorhin.
Argh, er war so dämlich gewesen! Er hatte all sein Gegengift im Kampf gegen Kai in Azalea City aufgebraucht und hatte die Vorräte nicht aufgestockt. Trunken vor Freude hatte er sich mit seinem Team sogleich aufgemacht... Wie verantwortungslos er doch gewesen war. Und er wollte in einem Pokémon-Center arbeiten, pah! Niemals würde er sich das verzeihen.
Silber war indes auf den Rücken des Tauboss geklettert: „Ich kenne einen Ort, an dem ihm geholfen wird.“
Linus, verloren in Selbstvorwürfen, bedankte sich leise und hievte mit Silber gemeinsam Morlord auf den Rücken des Vogels. Nicht daran denkend, dass er ihn fragen sollte, wohin er Lino brachte; dass er es nach wie vor mit einem Fremden zu tun hatte; dass er nicht hinterfragt hatte, wie Silber sie mitten in der Nacht plötzlich an einem Waldesrand gefunden hatte; dass von Menschen, die sich über ihre eigenen Pokémon stellten, wenig zu erwarten war; dass nicht jeder Mensch die Wahrheit sprach.
Erst als Silber mit dem sich in die Nachtluft erhebenden Tauboss und Morlord im schwarzen Himmel verschwand und den Rest der Truppe zurückließ, füllten sich seine Augen mit Tränen und er brach zusammen.
~ Fortsetzung folgt ~