Tanea schien endlos auf der Brücke zu stehen. Als sie stehenblieb, sah Luto sie einige Sekunden einfach nur atemlos an. Es verging eine Minute, dann eine weitere und die Gerudo rührte sich nicht. Sie stand da, die Augen geöffnet und den Kopf gesenkt, tief in Gedanken, wie es schien. Die Zeit verrann weiter und allmählich begannen die anderen, einander Blicke zuzuwerfen. Luto wurde unruhig. Was dauerte da so lange? Tanea bewegte sich nicht und sprach kein Wort. Was sah sie? Waren es schreckliche oder wundersame Dinge?
Allmählich begannen auch Silex und Sala auf der anderen Seite, sichtbar nervös zu werden. Lutos Herz schlug schneller und er drehte sich zu Najwu und Lucinda, die ihre Blicke ebenfalls auf Tanea gerichtet hatten.
"Was ist mit ihr?", fragte Luto atemlos.
Silex warf einen verwirrten Blick zu Sala, als sich die Gerudo nicht mehr bewegte und regungslos auf der Brücke stand. Sala schüttelte nur sachte den Kopf und streckte den Arm aus, um den Hylianer zurückzuhalten, als dieser die Brücke betreten wollte.
"Wir dürfen nicht", sagte sie tonlos. "Sie muss das alleine schaffen, egal, wie lange es dauert."
Silex schluckte heftig, aber er folgte ihrer Anweisung und trat wieder zurück. Wie lange warteten sie nun schon - zwanzig Minuten? Dreißig? Die Zeit schien wie im Flug zu vergehen und im nächsten Moment schien sie wieder stillzustehen. Salas Atem wurde schneller, als sie selbst den Drang verspürte, die gläserne Brücke zu betreten. Sie musste sich beherrschen. Tanea würde es schaffen. Sie musste.
Eine Ewigkeit schien vergangen zu sein und die Gruppe auf beiden Seiten des Flusses war mit den Nerven am Ende, als eine Bewegung die Gerudo durchzuckte. Luto und die anderen riefen nach ihr und nun schien sie ihre Worte zum ersten Mal wahrzunehmen. Sie blinzelte und blickte sich orientierungslos um, brauchte einige Sekunden, um zu erfassen, wo sie sich befand und was los war. Luto keuchte schwer und wischte sich den Schweiß von der Stirn, so nervös war er gewesen. Doch dann fiel ihm ein Stein in der Größe des Todesbergs vom Herzen, als Tanea lächelte und mit festen, sicheren Schritten ihren Weg fortsetzte.
Alle brachen in Jubel aus, als Tanea ihren Fuß auf die steinerne Klippe auf der anderen Seite setzte und die Brücke verließ, und Sala fiel ihr um den Hals. Sie presste die Gerudo mit ihrem gesunden Arm an sich und schloss die Augen.
"Ich gratuliere dir", wisperte sie und ließ nicht los. Sie vergrub ihr Gesicht in Taneas Schulter und genoss jeden Atemzug in diesem Traum, sog begierig den Duft der Gerudo ein. "Du hast es geschafft. Du bist wirklich die Würdigste von allen."
Tanea lächelte etwas unsicher und erwiderte die Umarmung einen Moment lang, doch es war ein eigenartiges Gefühl.
Auf der anderen Seite stand Luto und beobachtete aus der Ferne, wie sich die beiden Frauen um den Hals fielen, und seine Erleichterung wich einem ganz miesen Gefühl, das sich in seinem Magen ausbreitete. Mit jeder Sekunde, die er diesem Anblick standhielt, vergrößerte sich seine Abscheu vor Sala und in jeder Faser seines Körpers entbrannte der Wunsch, dass sie ihre Finger endlich von Tanea nehmen würde. Eine Sekunde lang wallte in ihm der Wunsch auf, selbst umgehend die Brücke zu überqueren, nur um hinüberzustampfen und die beiden voneinander zu trennen, doch dann schloss er die Augen und atmete tief durch. Es war ein Traum. Nichts hiervon war echt. In Wirklichkeit lagen sie in einer Höhle im Gras, jeder für sich, und Sala war nicht einmal in ihrer Nähe. Er wusste nicht, was die beiden Frauen miteinander teilten, aber tatsächliche körperliche Nähe war es keinesfalls und der Gedanke, dass er hier im Traum wegen einer solchen Geste eifersüchtig wurde, kam ihm selbst einfach nur lächerlich und bevormundend vor. Er zwang sich, ruhig zu atmen und versuchte mit aller Macht, seine Aufregung gehen zu lassen. Es würde nicht mehr lange dauern. Sie mussten nur noch alle wohlbehalten über diesen Fluss, dann hätten sie diese schrecklichen Träume endlich ausgestanden.
Er öffnete die Augen und sah, wie Lucinda die Brücke betrat. Natürlich hing es nicht nur von Luto selbst ab - auch sie und Najwu waren noch übrig, sich der Prüfung zu unterziehen. Er widmete ihr seine Aufmerksamkeit und verfolgte, wie sie die Brücke entlang ging und, ähnlich wie die anderen vor ihr, unbehelligt bis zur Mitte kam. Ihr Schritt wurde langsamer. Sie ging noch ein Stück weiter, dann blieb sie ganz stehen. Da war es wieder - der gesenkte Kopf, der verlorene Blick, der in weite Ferne gerichtet zu sein schien und ziellos umherwanderte, ohne die Höhle und die Leute darin bewusst wahrzunehmen. Luto warf einen Blick zu Najwu, dem Schweißtropfen auf der Stirn standen, als er den Blick seines sichtbaren Auges auf Lucinda gerichtet hielt. Plötzlich sah Luto in dem Mann mit aller Klarheit die Zuneigung, die er der jüngeren Gerudo entgegenbrachte, und fragte sich, wie er die ganze Zeit so blind gewesen sein konnte, es nicht wirklich zu bemerken. Wahrscheinlich hatten alle rundherum außer ihm schon mitbekommen, dass zwischen Lucinda und Najwu mehr vorging, als offen ausgesprochen wurde. War Luto wirklich so ignorant oder so ahnungslos, dass er solche Dinge einfach übersah?
Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Lucinda. Die Gerudo bewegte sich wieder und fing an, mit schnellem Schritt das Ende der Brücke anzusteuern. Doch ihre Bewegungen waren unsicher, zitternd. Luto fragte sich, ob sie ihre Prüfung schon gemeistert hatte - oder ob sie versuchte, vor etwas davonzulaufen, was nur ihre Augen sahen?